11.Okt 2004

Vermutlich tausende Vioxx-Opfer
in Deutschland: "Grobes Versagen"

Berliner Anwalt bestätigt: Deutsche Patienten verlangen Schadenersatz

Berlin. (AP/dpa) Das Ende September vom Markt genommene Rheumamittel Vioxx hat nach Einschätzung von Experten auch in Deutschland zahlreiche Todesfälle und dramatische Nebenwirkungen verursacht. Hochrechnungen zufolge habe das Präparat bei bis zu 2 700 Patienten zu Schlaganfällen, Thrombosen und Herzinfarkten geführt, erklärte Peter Sawicki, Leiter des neuen Instituts für Qualität im Gesundheitswesen, am Wochenende. "Ein Teil dieser Menschen wird diese gefährlichen Nebenwirkungen nicht überlebt haben." Der Hersteller wies dies als Spekulation zurück.

Man habe stets verantwortungsbewusst und im Sinne der Patienten gehandelt und Informationen zu Risiken frühzeitig weitergegeben, betonte die MSD Sharp & Dohme GmbH am Sonntag in Haar bei München. Das Medikament sei freiwillig vom Markt genommen worden. Die von Sawicki verbreiteten Opferzahlen entbehrten jeder soliden wissenschaftlichen Grundlage.

Der anerkannte Wissenschaftler hatte nach den 2003 von den Krankenkassen erstatteten 125 Millionen Tagesdosen hochgerechnet, dass es bis zu 430000 Vioxx-Patienten in Deutschland gab. Die Fälle von Nebenwirkungen berechnete er nach eigenen Angaben bezogen auf die Langzeitstudie, die zum Rückruf der Arznei geführt hatte. Er äußerte sich in einer Sonntagszeitung und einem Nachrichtenmagazin. Für die USA werde hochgerechnet, dass statistisch 27785 Herzattacken und Herztode zwischen 1999 und 2003 mit Vioxx zusammenhängen könnten, berichten beide Blätter. Sawicki sprach von grobem Versagen von Pharmaunternehmen und Kontrollbehörden.

Den Verdacht auf mögliche Herz-Kreislauf-Probleme gab es nach Darstellung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bereits im Jahr 2000. Damals seien die europäischen Zulassungsbehörden zu einer positiven Nutzen-Risiko-Bewertung gekommen, hätten aber zusätzliche Hinweise auf Nebenwirkungen verlangt. Der Arzneimittelexperte Wolfgang Becker-Brüser sagte der Sonntagszeitung, Experten hätten schon lange vor der Thrombosegefahr durch Vioxx gewarnt. Das Unternehmen habe das gewusst.

MSD erklärte hingegen, der "Vorwurf der Vertuschung ist falsch". Frühere klinische Studien hätten kein erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko durch Vioxx ergeben. Erst eine jetzt abgebrochene Langzeitstudie habe ein solches Risiko nach 18 oder mehr Monaten Einnahme gezeigt. Daraufhin habe MSD die Arznei sofort freiwillig zurückgezogen. Mit Vioxx machte der Hersteller 2003 weltweit 2,5 Milliarden Dollar Umsatz.

Auch andere, ähnliche Medikamente stehen laut Experten nun im Verdacht, gravierende Nebenwirkungen zu haben. Es gehe um die gesamte Wirkstoffgruppe der so genannten Cox-2-Hemmer. "Bislang sieht es danach aus, dass nicht nur Vioxx ein Nebenwirkungsproblem hat", sagte Bruno Müller-Oerlinghausen von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft dem Nachrichtenmagazin.

Indes wurde am Wochenende bestätigt, dass auch deutsche Patienten Schadenersatz vom US-Pharmakonzem Merck verlangen. "Wir prüfen zugleich, ob wir uns einer Gruppenklage in den USA anschließen", sagte der Berliner Anwalt Andreas Schulz der dpa. Schulz vertritt Vioxx-Patienten sowie die Angehörigen eines Verstorbenen, der das Medikament mehr als zwei Jahre einnahm.

Vioxx-Hersteller droht Sammelklage

Berliner Anwalt prüft bis zu 50 Todesfälle nach Einnahme des Medikaments

Berlin. (dpa) Der Berliner Anwalt Andreas Schulz prüft im Auftrag von Hinterbliebenen bisher 40 bis 50 Todesfälle, die möglicherweise auf die Einnahme des Medikaments Vioxx zurückgehen. Seit der weltweiten Marktrücknahme des Rheuma- und Schmerzmittels vor zwei Wochen hätten sich außerdem 120 bis 150 Betroffene an ihn gewandt, die von "sehr schweren" Nebenwirkungen des Medikaments berichteten, sagte Schulz am Mittwoch. Seine Kanzlei erhalte täglich mehr als 100 Anrufe von verunsicherten Patienten und deren Angehörigen. Vioxx erhöht einer Studie zufolge das Risiko von Herzattacken und Schlaganfällen.

Bevor Betroffene Ansprüche gegen den Vioxx-Hersteller Merck anmelden könnten, müssten mögliche Nebenwirkungen des Medikaments aber in jedem Einzelfall geprüft werden, betonte Schulz. "Wir übernehmen die anwaltliche Vertretung nur, wenn uns ein Zusammenhang medizinisch und rechtlich plausibel erscheint." Dies könne mehrere Wochen dauern.

Die Deutsche Rheuma-Liga in Bonn hat nach eigenen Angaben eine Liste eingerichtet, in die sich Vioxx-Patienten eintragen lassen können. Die Betroffenen erhalten dann Informationen über die weitere Entwicklung und Klagemöglichkeiten.

Schulz prüft nach eigenen Angaben Ansprüche auf Schadenersatz gegen den deutschen Merck-Ableger MSD Sharp & Dohme GmbH und im Rahmen einer Sammelklage gegen den US-Mutterkonzern. Merck hatte Vioxx zurückgerufen, nachdem eine dreijährige Studie eine Verdoppelung von Herzattacken und Schlaganfällen nachgewiesen hatte, wenn das Mittel mehr als 18 Monate eingenommen wurde. Eine erhöhte Todesrate im Vergleich zur Kontrollgruppe gab es nach Unternehmensangaben bei dieser Studie nicht.

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