WELT AM SONNTAG NR. 10, 5. MÄRZ 2006
Seit 21 Jahren lebt Clive Wearing nur im Augenblick. Ein Virus zerstörte sein Gedächtnis, nach Sekunden vergißt er alles. Besuch bei einem Mann, der jeden Moment erlebt, als sei er erst soeben erwacht
Von Helke Vowinkel
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Leben ohne Vergangenheit

DER MANN, der aus der Zeit fiel, wohnt in einem verwinkelten weißen Haus, in einem Ort namens Crowborough im Südosten Englands. Sein Zimmer liegt im Obergeschoß hinter der Tür mit der Nummer sieben und der Aufschrift Clive Wearing. Dahinter erwacht der zierliche Mann mit den graubraunen Haaren immer und immer wieder, mehrere tausendmal am Tag, so als wäre es das erste Mal seit Jahren.

Er sieht das Klavier, die Bilder auf der Kommode, Fotos von sich und seiner Frau, von seinen Kindern, den Eltern. Er sieht die Notenblätter, das Keyboard, die Musikanlage. Er ahnt, daß all das ihm gehört, doch er erkennt es nicht. Er weiß nicht, wie er hierhergekommen ist, warum er hier lebt.

In seinem Tagebuch neben der Kommode hat jeder Tag Dutzende Einträge, die meisten sind durchgestrichen. Sie ähneln sich: "7.48 Uhr - endlich wirklich wach, bitte Liebes komm. 7.50 Uhr - jetzt zum ersten Mal wach. 7.53 Uhr wahrhaftig aufgewacht, Deborah komm so schnell wie ein Lichtstrahl." Die Hölle ist ein Zustand des ständigen Erwachens. Clive Wearing lebt seit 21 Jahren in ihr.

An diesem Nachmittag ist sie erträglicher, denn Deborah, seine Frau, ist da. Er spielt am Klavier ein Präludium von Bach. Als er sich umdreht, begrüßt er sie, als sei sie soeben erst eingetroffen. "Da bist du ja endlich, Darling!" ruft er und küßt sie. "Ist sie nicht die schönste Frau der Welt?" fragt er jeden in der Nähe. Die Frau mit den dunkelblonden Locken strahlt ihn an. Seit Stunden ist sie bei ihm. Sie waren in einem Cafe Schokoladenkuchen essen und anschließend bummeln. An nichts von dem kann er sich erinnern.

Psychologiestudenten studieren seinen Fall in Lehrbüchern, es werden Symposien und Kongresse über ihn abgehalten, zuletzt beim Treffen der Internationalen Neuropsychologischen Gesellschaft in Boston Anfang Februar. Clive Wearing gilt als der Mann mit der schlimmsten bekannten Form von Gedächtnisverlust. Ein Virus hat Teile seines Gehirns zerstört. Dennoch weiß er, daß er Clive Wearing ist, Deborah liebt und mit ihr verheiratet ist. Er weiß, daß er zwei Söhne aus erster Ehe hat, auch wenn ihm ihre Namen nicht immer einfallen. Er kann sich an seine Eltern erinnern, an manche Ereignisse in seiner Kindheit, an sein Studium in Cambridge.

Er weiß auch, daß er mal in Deutschland war. "An was in Hamburg erinnerst du dich?" fragt ihn seine Frau. Er knetet seine Hände. "Ich weiß nicht", sagt er hastig. Er mag nicht, wenn er allzu Konkretes gefragt wird.

Clive Wearing hat viel Konkretes aus der Zeit vor dem 26. März 1985 verloren und alles, was danach passierte. Seit jenem Dienstag, dem letzten Tag, an dem er ein funktionierendes Gedächtnis hatte, lebt er nur noch im Augenblick.

Niemand weiß besser, wie Clive Wearings Hölle aussieht, als seine Frau Deborah. Sie hat sein Leiden publik gemacht, um das Leben für ihn und die Zehntausenden zu erleichtern, die jedes Jahr eine unheilbare Amnesie, Gedächtnisverlust, erleiden. Sie hat eine Organisation für die Betroffenen und deren Angehörige gegründet. Und sie hat ein Buch über Clive geschrieben, das am 7. März in Deutschland erscheint. Es ist auch die Geschichte einer Liebe, die mehr Kraft kostet, als menschenmöglich scheint.

Der 26. März 1985 begann für Clive Wearing mit 40 Grad Fieber und einer Art Delirium. Die Ärzte glaubten, es sei eine Grippe. Als er drei Tage später ins Krankenhaus gebracht wurde, diagnostizierte man eine Hirnhautentzündung, ausgelöst durch ein Herpes-Simplex-Virus. Normalerweise verursacht dieses Virus Fieberbläschen an Lippen oder Genitalien, doch in einem von einer Million Fällen wandert es ins Gehirn. Bei Clive Wearing zerstörte es Teile der rechten, vor allem aber der linken Hirnhälfte und insbesondere die seepferdchenförmigen Strukturen namens Hippocampus, die als Zentrum für das Gedächtnis gelten und in denen neue Gedanken abgelegt werden (siehe Kasten).

Clive Wearing überlebte, obwohl seine Chance bei 20 Prozent lag. Doch er war nicht mehr der Mann, der er zuvor war. Als das Virus in sein Gehirn drang, war er 47 Jahre alt, Dirigent des bekannten Ensembles London Sinfonietta und BBC-Musikproduzent. Clive, obwohl 20 Jahre älter, war Deborahs erste große Liebe. Sie hatten sich in einem seiner Chöre kennengelernt und waren damals seit sechs Jahren ein Paar. Beide arbeiteten viel, sie als Pressereferentin, er für seine Musik. Freizeit gönnten sie sich kaum. Nun geriet ihr Leben aus der Bahn. Erst nach Monaten wurde das Ausmaß seiner Schädigung deutlich. Clives umfangreicher Wortschatz kam nur langsam wieder, ein Großteil seiner Erinnerung gar nicht mehr. Anfangs schien er nicht zu merken, daß er sein Gedächtnis verloren hatte. Die Verwirrtheit überwog.

Doch mit der Zeit wurde er sich seines Zustands bewußt. Eines Tages fand sie ihn schluchzend in seinem Krankenhausbett. Er weinte tagelang ohne Unterlaß. Die Ärzte hielten es für einen neurologischen Tick. Als sie ihn bat aufzuschreiben, warum er so weinte, kritzelte er auf einen Zettel: "Ich bin vollständig unfähig zu denken."

Seine Fähigkeit zu verstehen, was er sah und hörte, war intakt. Doch er konnte nichts länger als für Sekunden behalten. jeder neue Eindruck löschte den vorherigen. Immer und immer wieder stellte er die Frage: "Wie lange bin ich schon krank?" Egal wie oft die Antwort kam, sie blieb nicht haften. Lautete sie "Vier Monate", antwortete er "Vier Monate habe ich nichts gehört, nichts gesehen, nichts berührt, nichts gerochen. Es ist, als wäre man tot, wie eine einzige lange Nacht, und die dauert jetzt schon ... wie lange?"

Es gab Phasen, da reagierte Clive Wearing aggressiv auf die Rätsel, die ihn die Welt aufgab. Er vermutete eine Verschwörung und wollte wissen, mit welcher Technik seine Umgebung permanent verändert wurde.. Legte er etwa Patience-Karten und schaute kurz mal weg, war es für ihn, als säße er anschließend vor einer neuen Kartenanordnung. Er schrieb sich die Reihenfolge der Karten auf, doch weil er seiner eigenen Schrift nicht traute -jeder hätte sie nachahmen können -, verschlüsselte er die Zahlen und Farben mit Noten, komponierte so Melodien. Nun erkannte er zwar die Melodien, aber nicht, daß sie von ihm waren. Sein Leben wurde zum ständigen Zweifel an sich und der Welt.

Allein in der Musik fand er Trost. Denn wie durch ein Wunder konnte er noch immer Noten lesen und musizieren. Wenn er spielt, ist es, als wäre er zurück in der Zeit und bliebe in ihr. Sobald er endet, fällt er wieder aus ihr heraus. Ein Phänomen, daß auch für die Psychologin Barbara Wilson, die ihn seit 20 Jahren untersucht, immer noch erstaunlich ist. "Wie er sein musikalisches Gedächtnis bewahren konnte, bleibt ein Rätsel. Er musiziert nicht bewußt, es kommt aus einer inneren Erinnerung heraus", erklärt sie. Sie bezeichnet das als implizite Erinnerung, eine Form des unbewußten Erinnerns.

Nach sieben Jahren hatte sich nicht nur Clive Wearings früheres Leben aufgelöst, auch das seiner Frau. All ihre Energie hatte sie auf den Kampf für eine bessere Versorgung von Amnesie-Patienten konzentriert, und als sie sie für Clive endlich erreicht hatte, er bekam einen Platz in einem Heim für Amnesiepatienten, flüchtete sie nach New York. "Es zerriß mich zu wissen, daß ich Clive nicht helfen konnte", sagt sie.

Deborah Wearing war Mitte Dreißig und wollte frei sein, für ein neues Leben. Sie ließ sich scheiden, und telefonierte doch regelmäßig mit Clive. Sie probierte neue Beziehungen aus - und meinte doch, daß ihre Liebe zu ihm stärker war. Nach drei kehrte sie nach England zurück. Sie fand zum Glauben und den Trost nicht nur für sich, sondern auch für ihre Liebe zu ihm.

Heute lebt sie zwei Autostunden von Crowborough entfernt. Sie besucht ihn, so oft sie kann. Er ist geduldiger und ruhiger geworden, fast so, als habe er sich mit seinem Zustand abgefunden. manchmal noch kehrt die Verzweiflung zurück. Doch sobald das Thema gewechselt wird, beruhigt er sich. Deborah Wearing glaubt ihre Gebete haben seinen Zustand verbessert. Die Psychologin Wilson macht dafür die professionellere Betreuung verantwortlich. Heute ist er umgeben von Menschen, die mit seinem Zustand umzugehen wissen. Als er erkrankte war wenig bekannt über den Umgang mit Amnesie-Patienten.

Deborah Wearing ist glücklich, daß sie sich mit ihm inzwischen unterhalten kann, daß er ihr gar Ratschläge gibt. Daß er sich wiederholt, stört sie nicht. Fast ist es als kämpfe er nicht mehr gegen die Rätsel seiner Gegenwart. Als habe er gelernt, im Augenblick zu leben. Die größte Rolle spielt darin sie.

Vor vier Jahren haben die beiden erneut geheiratet. "Ich wußte plötzlich, daß wir für immer zusammengehören", sagt sie. "Erinnerst du dich, wie wir unser Eheversprechen erneuert haben? fragt sie ihn. ja, das ist eine tolle Idee, laß uns das tun", sagt er. "Wir haben es bereits getan." "Ach so, dann ist es gut." Sie druckt seine Hand, er lächelt zufrieden.

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