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Gesundheitsreform: Hagen Kühn, Gesundheitsökonom vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, über soziale Ursachen von Krankheit

Gesetzliche Versicherung für alle Arbeitnehmer

VDI nachrichten, Düsseldorf, 5. 3. 04 -Die Krankheitslast nimmt zu, je niedriger Einkommen, Bildungsabschluss und berufliche Position sind, meint der Berliner Gesundheitsökonom Hagen Kühn. Er plädiert für die Einbeziehung aller Arbeitnehmer in die gesetzliche Krankenversicherung, dann könnten auch die Beiträge sinken.

VDI nachrichten: Die Ersatzkassen fordern, dass sich künftig alle Arbeitnehmer gesetzlich versichern müssen. Was halten sie davon?

Kühn:Damit würde die Solidargemeinschaft beträchtlich entlastet. Die 10 % der Bevölkerung mit privater Versicherung haben überdurchschnittlich hohe Einkommen und unterdurchschnittliches Krankheitsrisiko. Ihre Einbeziehung in den Solidarausgleich würde die Einnahmen erhöhen und die Ausgabenseite entlasten. Je nach Beitragsbemessungsgrenze könnteder Beitragssatz sicher 1,5 % - bis 2 %-Punkte sinken. Das haben wohl auch die Ersatzkassen mit ihrem Vorschlag zur Abschaffung der Versicherungspflichtgrenze im Auge.

VDI nachrichten: Was halten Sie von dem konkurrierenden Modell der Kopfpauschalen?

Kühn:Fast alle Industrieländer haben als Antwort auf die sozial ungleichen Krankheitsrisiken Formen des Solidarausgleichs entwickelt. Kopfpauschalen sind das Gegenteil. Letztlich sollen damit Kosten von den Arbeitgebern auf die Versicherten verlagert werden. Geringverdiener müssten vom Staat Geld bekommen, damit sie sich eine Krankenversicherung leisten können. Weil die Risiken, krank zu werden und früher zu sterben, ungleich verteilt sind, kann dann ein Großteil der Bevölkerung nicht ohne enorme Mittel des Staates, der sich zunehmend aus Lohn und Verbrauchssteuern finanziert, versichert werden.

VDI nachrichten: Heißt das Arme tragen ein höheres Krankheitsrisiko als Reiche?

Kühn:Zahllose Studien zeigen immer wieder: Die Krankheitslast in der Gesellschaft nimmt zu, je niedriger Einkommen, Bildungsabschluss, berufliche Position und soziale Integration sind.

Mit anderen Worten: Gerade die sozialen Gruppen mit der größten gesundheitlichen Belastung verfügen über die geringsten Möglichkeiten, sich selbst zu helfen. Wären alle privat versichert, dann müssten Angehörige der unteren Mittelschicht und Unterschicht nicht nur einen weitaus größeren Teil ihres Einkommens, sondern sogar einen absolut höheren Betrag für die Krankenversicherung aufwenden als die Bessergestellten. Daher der Solidarausgleich. Wie groß die soziale Ungleichheit auch innerhalb der Sozialversicherten beim Krankheitsrisiko ist, sieht man am Versagen des Risikostrukturausgleichs der Gesetzlichen Krankenversicherung. Obwohl die unterschiedliche Altersstruktur finanziell ausgeglichen wird, entstehen den Kassen, deren Versicherte eher den unteren Schichten angehören, enorme Mehrausgaben.

VDI nachrichten: Ist der Herzinfarkt immer noch die typische Managerkrankheit?

Kühn:Empirische Untersuchungen zeigen umgekehrt, dass ein Industriearbeiter oder eine Biirohilfskraft ein wesentlich höheres Herzinfarktrisiko trägt als ein Manager. In der Forschung kristallisiert sich immer mehr heraus, dass hierzu die unterschiedlichen Lebenslagen, wie Arbeit und Arbeitsqualität, Wohnen, Freizeitbedingungen, also die Möglichkeiten, das Leben selbst zu bestimmen und sozial anerkannt zu sein, in hohem Maße beitragen.

Kühn:Nicht nur in der Krankheitsentstehung, auch im Verlauf. Je niedriger die soziale Schicht, desto früher beginnen und länger dauern chronische Erkrankungen. Mehr noch: Untersuchungen aus den USA zeigen, dass nach Krebsoperationen oder -therapien die Überlebensdauer der Patienten stark mit der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht zusammenhängt. Auch wurde gezeigt, dass in Krankenhäusern Patienten der Unterschicht mit gleicher Diagnose einen höheren Aufwand erfordern.VDI nachrichten: Lassen sich diese sozialen Schranken durch Information und Wissen überwinden?

Kühn:Nur sehr eingeschränkt. Wissen über gesunde Lebensführung hat geringen Einfluss auf unser Verhalten zur Krankheitsvorbeugung. Jeder weiß, dass Rauchen der Gesundheit schadet, dennoch rauchen viele. Unser Verhalten hängt weniger vom Wissen ab, sondern von der Gesamtheit unserer Lebensumstände. Wer unter restriktiven Bedingungen arbeitet, kann hier nicht viel bestimmen. Gesundes Leben und geringes Einkommen sind ebenfalls oft ein Widerspruch, nehmen wir nur das Wohnumfeld oder die Ernährung. So haben zum Beispiel die an Sylvester gefassten Vorsätze meist eine sehr kurze Lebensdauer, wenn sie mit den Einschränkungen im Alltag nicht zu vereinbaren sind. HAS/PK

Gesundheitsreform

Fluchtloch stopfen

Die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze hat der Verband der Angestellten-Krankenkassen (\/dAK) gefordert. Derzeit können Arbeitnehmer, die mehr als 3862,50 E im Monat verdienen, in eine private Krankenversicherung (PKV) wechseln. Ein generelles Wahlrecht bedeute das Ende der sozialen Krankenversicherung, weil junge und gesunde Versicherte die PKV wählen würden, während alte und kranke Menschen bei den Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) blieben,

so der Verband in einem Strategiepapier, das voraussichtlich im Mai verabschiedet werden soll.

has