Straubinger, 17.Juni 2006, Wochenende

Weiter als der Himmel - soviel Gewicht wie Gott
Gehirnforschung und Ethik: Medizinische Fortschritte bringen Fragen über ethische Grenzen mit sich

The Brain-is wider than the Sky-

For-put them side by side-

The one the other will contain

With ease-and You-beside-

 

The Brain is deeper than the sea-

For-hold them-Blue to Blue-

The one the other will absorb-

As Sponges-Buckets-do-

 

The Brain is just the weight of God-

For-Heft them-Pound for Pound-

And they will differ-if they do-

As Syllable from Sound-

 

Das Gehirn - ist weiter als der Himmel/Denn - leg' sie Seite an Seite -/ Wird das eine das andere enthalten/Mit Leichtigkeit - und auch dich - noch nebenbei," schrieb Emily Dickinson Mitte des 19. Jahrhunderts. Das menschliche Gehirn war für die amerikanische Dichterin nicht einfach Kontroll- und Steuerungsorgan des Homo sapiens, sondern umfasste in seinem Vorstellungsvermögen das gesamte Universum. An dieser Faszination hat sich auch heute - trotz aller neurowissenschaftlichen Erkenntnisse - wenig geändert: Das Organ hat kaum etwas von seiner Rätselhaftigkeit eingebüßt. Man würde Emily Dickinson wohl auch nicht darin widersprechen, dass ein Gehirn den Menschen, der es besitzt, als Individuum "enthält", ihn zu dem einzigartigen Menschen macht, der er ist.

Dass der Mensch Teil seines Gehirns ist - niemand weiß das so gut wie die Angehörigen von Schlaganfall-, Alzheimer- und Parkinsonpatienten. Im Gegensatz zur Zeit Dickinsons sind die medizinischen Mittel verbessert worden, doch immer noch gibt es einen enormen Forschungsbedarf: Die Alzheimersche und die Parkinsonsche Erkrankung zu heilen, gehört zu den größten Herausforderungen der Neurowissenschaften. Gleichzeitig sind ethische Fragen angebracht: Denn das Gehirn ist nicht irgendein Organ, sondern vor allem auch Sitz der Persönlichkeit.

Den Bereich des Gehirns, an dem die Persönlichkeit angelegt ist, entdeckte die Gehirnforschung im Jahr 1848: Am 14. September jenes Jahres informierte die Boston Post ihre Leser über einen ungewöhnlichen Vorfall, der sich tags zuvor in einer Kleinstadt nahe Vermont ereignet hatte: Phineas P. Gage, Vormann eines Eisenbahn-Bautrupps, war bei einer Explosion eine drei Zentimeter dicke und einen Meter lange Eisenstange durch den Kopf getrieben worden. Trotz des schrecklichen Unfalls blieb der junge Mann nicht nur bei vollem Bewusstsein, sondern, wie die Zeitung berichtete, "er war heute um zwei Uhr nachmittag noch am Leben, bei klarem Verstand und hatte keine Schmerzen."

Erstaunlich war aber nicht nur, dass der Eisenbahnarbeiter die schweren Kopfverletzungen - ein Großteil seiner vorderen linken Gehirnhälfte war zerstört worden - überlebte: Gage, der vor dem Unfall als gesellig, verantwortungsbewusst und fleißig bekannt war, zeigte sich nun von einer ganz anderen Seite, war ungeduldig, launenhaft und unzuverlässig.

Was für Phineas Gage und seine Angehörigen eine Tragödie war, erwies sich für die Gehirnforschung als Glücksfall, konnte damit zum ersten Mal der Sitz der Persönlichkeit im menschlichen Gehirn lokalisiert werden. Allerdings mussten die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse teuer bezahlt werden: Eine Persönlichkeitsveränderung, wie sie der junge Arbeiter erlitten hatte, wurde von Ärzten rund 80 Jahre später durch chirurgische Eingriffe bewusst hervorgerufen. Die in den USA der vierziger und fünfziger Jahre häufig vorgenommenen Lobektomien und Lobotomien, bei denen der Frontalkortex entfernt oder seine Verbindung zum Rest des Gehirns unterbrochen wurde, resultierte für die Patienten in einer unwiderruflichen Veränderung, ja Auslöschung ihrer Persönlichkeit. Das Ziel der Mediziner jener Zeit war es, krankheitsspezifische Verhaltensweisen wie übermäßige Aggressivität dauerhaft zu unterbinden, doch verloren die Patienten, an denen die heute umstrittenen Eingriffe vorgenommen wurden, nach den Berichten von Angehörigen und Ärzten ihre Emotionsfähigkeit und blieben apathisch.

Ob diese Eingriffe gerechtfertigt waren, als es keine Behandlungsmöglichkeiten für eine Vielzahl schwerer Geisteskrankheiten gab, ist unter Fachleuten noch heute ein kontrovers diskutiertes Thema. Eine Überzeugung hat dieses dunkle Kapitel in der Geschichte der Gehirnforschung aber gebracht: Dass es neben den anderen Funktionen des Gehirns die innewohnende Identität ist, die das Organ besonders schützenswert macht und damit jegliche Eingriffe - seien es chirurgische, psychotherapeutische oder pharmakologische - eigenen ethischen Grundsätzen unterwirft.

Die Sonderstellung des Gehirns war Thema der Diskussionsrunde, die kürzlich im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Dialog" im Bayerischen Landtag unter dem Titel "Medizinische Chancen und ethische Grenzen der Neurowissenschaften" stattfand. "Es macht uns Angst, wenn sich einer an unserem Gehirn zu schaffen macht", bestätigte Professor Dr. Hans Förstl die gängige Reaktion auf neurowissenschaftliche Methoden. Das Einführungsreferat des Psychiatriedirektors vom Klinikum rechts der Isar zeigte zweierlei:

Welchen mitunter fragwürdigen Weg die Gehirnforschung seit ihren kruden Anfängen in prähistorischer Zeit gegangen ist, und dass heutige Heilungsmethoden anderen, eben auch ethischen Kriterien genügen müssen. Ethisch handeln, so wurde im Laufe der Diskussion von allen Teilnehmern bestätigt, bedeutet damit einerseits, geeignete Heilungsmethoden zu finden und sie dem Kranken zur Verfügung zu stellen. Andererseits heißt es aber auch, Grenzen bei Forschungsmethoden zu setzen, die ethisch nicht zu rechtfertigen sind. Diese Grenzen festzusetzen bereitet allerdings enorme Schwierigkeiten.

Da die medizinische Forschung per definitionem vom Unbekannten lebt, Hypothesen aufstellen und ganz neue Wege gehen muss, werden auch immer wieder aufs Neue ethische Grenzen tangiert. Klar formuliert sind diese nur in den seltensten Fällen: Oft werden diese Grenzen erst Diskussionsgegenstand, nachdem sie überschritten worden sind oder ihre Überschreitung unmittelbar bevorsteht. Was ethisch vertretbar ist, muss daher in einem dynamischen Prozess immer wieder verhandelt werden.

Ein aktuelles Beispiel ist die embryonale Stammzellenforschung, von der sich Neurowissenschaftler gerade im Kampf gegen Alzheimer und Parkinson viel versprechen, die aber Bedenken hinsichtlich des Schutzes des Menschen hervorruft. Auch sind die ethischen Grenzen, die der Wissenschaft gesetzt werden, auf globaler Ebene nicht einheitlich geregelt - woraus ein nicht geringer Druck auf die europäischen Forscher entsteht. "Die Beschleunigung der Wissenschaft macht den Anspruch auf demokratische Kontrolle schwierig", erläuterte der Moraltheologe Professor Dr. Eberhard Schockenhoff bei der "Dialog"-Debatte das Problem. Es müssten Fragen geklärt werden, so der stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Ethikrats, über Ziele, Methoden und Folgen einer Forschung, die den Menschen in seinen Anfängen als Organlabor benutze. Während die Ausarbeitung von Richtlinien für die medizinische Forschung meist Sache von Wissenschaftlern und Ethikexperten ist, wird in der Gesellschaft oft ein Thema vernachlässigt: Es muss von Seiten der Bürger diskutiert werden, welchen Weg der medizinische Fortschritt jenseits der Heilung von Krankheiten nimmt. Dies betonte auch Eberhard Schockenhoff: "Die Medizin hat den Auftrag zu heilen, doch der Mensch wird nicht immer gesünder, sondern die Toleranz der Fehlerhaftigkeit wird immer geringer."

In einer Gesellschaft, in der die uneingeschränkte Leistungsfähigkeit des Einzelnen im privaten wie im beruflichen Bereich zunehmend an Bedeutung gewinnt, wirken Einflussmöglichkeiten, wie sie die Neurowissenschaft geschaffen hat, auch für gesunde Menschen durchaus reizvoll. Professor Dr. Hans Förstl bestätigt das Risiko, das in der Verwendung von Psychopharmaka zur Leistungssteigerung liegt. Dass dies keine fiktive Dystopie a la "Schöne neue Welt" ist, zeigt der weltweite Gebrauch des Antidepressivums Prozac: "Das ist ein Medikament, das nicht nur die Depression nimmt, sondern eines, bei dem sich der Mensch auch besser fühlt," klärte Förstl auf: "Die Gefahr liegt in einer psychologischen Abhängigkeit."

Sich immer gut fühlen, nie mehr traurig sein - wer will das nicht? Die Kehrseite der guten Stimmung liegt nicht nur in den Nebenwirkungen und der Abhängigkeit: "Das Problem ist der Anspruch, fröhlich zu sein, ein gutes Gedächtnis zu haben - einfach perfekt zu sein", erklärte Professor Dr. Georg Goldenstein das gesellschaftliche Phänomen. Die Idee des Anspruchs sei aber problematisch, so der Chefarzt für Neuropsychologie am Städtischen Krankenhaus Bogenhausen. "Wichtiger ist es, einen Platz in der Gesellschaft zu erhalten, und zwar auch für nicht so kreative und weniger belastungsfähige Menschen.

Welche Auswirkungen Lifestyle Präparate wie Botox haben, kann noch gar nicht abgeschätzt werden. Botox wird aus dem Nervengift Botulinumtoxin gewonnen - in der Medizin wird dieses unter anderem zur Muskelentkrampfung bei spastischen Erkrankungen verwendet. Für die Allgemeinheit wurde Botox vor wenigen Jahren interessant, als sich Stars wie Madonna damit die Stirnfalten glätten ließen: Das Präparat lähmt die darunter liegenden Muskeln - und wer seine Stirn nicht mehr runzeln kann, bekommt auch keine Falten.

Der Übergang von Botulinum zu Botox kennzeichnet eine Entwicklung, in der es nicht mehr um die Gesundheit des Menschen geht, sondern um seine äußerliche Perfektionierung - man könnte fast sagen: seine Konfektionierung. Eine maskenhafte Mimik schränkt aber nicht nur den Ausdruck von Gefühlen ein, sondern auch das Aufkommen der Empfindung im Gehirn: "Der Mensch ist für die Entwicklung seiner Gefühle auch im Wesentlichen auf den Ausdruck angewiesen", betonte Hans Förstl. Die Wechselwirkung von Mimik und Gefühl zu unterbrechen, bedeutet keine geringe Veränderung für das Sozialverhalten des Menschen. Das Gehirn mag Sitz der Identität sein - wenn aber individuelle Gefühle nicht mehr ausgedrückt werden können, was ist dann noch authentisch?

Das Gehirn hat gerade soviel Gewicht wie Gott", schrieb Emily Dickinson übrigens in den letzten Versen. Ihre Analogie zwischen Gehirn und Gott weist weit über die physiologische Beschreibung des Denkorgans hinaus - es ist durchaus vorstellbar, dass die Dichterin dabei auch an "Seele" dachte. Zwar ist der Sitz der Seele nicht zu lokalisieren, wie Eberhard Schockenhoff sagte. Aber wenn man wie er den Begriff der Seele so definiert, dass sie die Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zu Gott darstellt, dann wäre die Verbindung von Seele und Gehirn einleuchtend. Franziska Hahn

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