WELT AM SONNTAG NR. 10, 5. MÄRZ 2006
Hungriges Gehirn macht dick
Neue Theorie zur Fettleibigkeit: Eine Störung im Hirnstoffwechsel zwingt zum ungezügelten Essen
Von Uwe Groenewold
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ZUWENIG Bewegung, zu viele Kalorien:Das sind die Hauptgründe für Übergewicht, so die gängige Meinung. Für Lübecker Wissenschaftler ist dies nur ein Teil der Wahrheit. Übergewicht sei Folge einer gestörten Informationsverarbeitung im Hirn, behaupten sie. Werde diese erfolgreich behandelt, reguliere sich das Gewicht von selbst. Auf einer internationalen Fachkonferenz in Lübeck wurde die neue Theorie zur Entstehung der Fettleibigkeit (Adipositas) jetzt vorgestellt.

In Deutschland gilt jeder zweite Erwachsene als zu dick. "Seit Jahrzehnten raten Ärzte fettleibigen Patienten, weniger zu essen und sich mehr zu bewegen", sagt Achim Peters, Professor für Innere Medizin und Diabetologe von der Universitätsklinik Lübeck.

Der Erfolg ist in den meisten Fällen mehr als bescheiden. Kein Wunder, meint Peters, denn Erkrankungen wie Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck seien in erster Linie Erkrankungen des Gehirns. "Sie lassen sich nicht mit mehr Bewegung und weniger Essen therapieren."

Von besonderer Bedeutung ist die Energieversorgung des Gehirns. Die Lübecker Forscher gehen davon aus, daß sich das Gehirn sehr egoistisch verhält und sich immer zunächst selbst mit Energie versorgt, bevor es anderen Organen, der Muskulatur und dem Fettgewebe etwas zuteilt. Gelangt zu wenig Energie in die Zentrale, fordert sie Nachschub - der Appetit wird gesteigert und der Organismus praktisch gezwungen, weitere energiereiche Nahrung aufzunehmen. "Bei dieser Ausweichstrategie des selbstsüchtigen Gehirns nimmt unweigerlich die Körpermasse zu und Übergewicht entsteht", sagt Peters.

Eine derartige Strategie entspringt der neuen Theorie zufolge krankhaften Prozessen im Hirn. Eßverhalten und Energieversorgung werden, so Peters, nicht nur von Hunger- und Sättigungsmechanismen reguliert, sondern vor allem von einem breit angelegten neuronalen Netzwerk gesteuert. Daran sind unterschiedliche Hirnstrukturen wie das limbische System, Hypothalamus und Hypophyse beteiligt. In diesen Arealen findet die Gedächtnisbildung statt und werden Emotionen verarbeitet, die mit Hunger und Sättigung einhergehen.

Nahrungsaufnahme und -verarbeitung sind demzufolge eng mit körperlicher und seelischer Gesundheit verknüpft. "Gesunde Menschen können an Weihnachten oder Ostern bedenkenlos ein paar Kilo zunehmen", sagt Peters. Innerhalb weniger Wochen verlieren sie sie wieder - ohne besondere Anstrengungen.

"Treten jedoch Störungen in der Informationsverarbeitung auf, etwa durch psychische Beeinträchtigungen oder starken Streß, kommt es auch zu Störungen in der Energieversorgung. Das Gehirn kann sich selbst nicht mehr genügend Energie in Form von Glukose zuteilen." Deshalb fordert es immer neuen Nachschub an Nahrung an. Der Mensch wird praktisch zum Essen gezwungen.

Die Theorie vom selbstsüchtigen Gehirn wird derzeit in verschiedenen Studien untermauert. Mit bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT) untersuchen die Lübecker Forscher den Adenosin-Triphosphat-Gehalt im Gehirn und in der Muskulatur, während der Körper verschiedenen Belastungen ausgesetzt ist. Adenosin-Triphosphat (ATP) ist eine Art Energiewährung des Organismus.

Je höher der Anteil des Moleküls, desto besser ist die Versorgung. Belastungstests an der Lübecker Universitätsklinik lieferten deutliche Ergebnisse, so Peters: "Wenn Energie eingespart werden muß, geht dies ausschließlich zu Lasten der Muskulatur. Im Gehirn haben wir immer einen ausreichend hohen ATP-Spiegel gemessen. Es hat sich also ständig mit Glukose versorgt, selbst wenn in der Muskulatur bereits ein Mangel vorherrschte."

Noch ist unklar, welche Auswirkungen das neue Wissen auf die Behandlung von Übergewicht, Diabetes und Fettstoffwechselstörungen haben könnte. "Anstrengungen zur Vermeidung und Behandlung dieser Volkserkrankungen können nur dann erfolgreich sein, wenn die überragende Bedeutung des Gehirns künftig berücksichtigt wird. "Werden zugrunde liegende Erkrankungen wie Depressionen oder andere psychische Beeinträchtigungen erfolgreich behandelt, so die Annahme, "dann ergibt sich die Gewichtsregulierung von allein."

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