DIE ZEIT

 

Wissen 42/2002

Die unsinnige Jagd nach Daten

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Viele Molekularbiologen haben das Denken eingestellt und sammeln Gensequenzen, die sie nicht verstehen. Der Medizinnobelpreisträger Sydney Brenner hingegen sucht nach dem Codebuch der Evolution. Er träumt von einer umfassenden Theorie des Lebens

von Ralf Neumann (Gesprächsführung)

die zeit: Erinnern Sie sich noch an einen Postdoktoranden namens Leonardo da Vinci?

Sydney Brenner: Aber selbstverständlich - er arbeitete in einem Labor in Neapel. Im Ernst: Sie spielen natürlich auf die Geschichte an, dass ich mir in einem Manuskript für die britische Royal Society den Spaß erlaubte, mitten im Text zu schreiben "Leonardo da Vinci, personal communication". Und als der Editor deswegen anrief, sagte ich ihm, das sei ein italienischer Postdoc, der gerade in meinem Labor angefangen habe.

zeit: Wie wichtig ist Humor in der Forschung?

Brenner: Absolut essenziell. Ich denke, zu viele Wissenschaftler nehmen sich selbst zu ernst. Humor eröffnet Menschen eine andere Perspektive. Er kann zu neuen Erkenntnissen führen. Oder gar beim Entwickeln von Ideen helfen. In der Tat muss eine gute Idee nicht nur gut sein, sondern in gewissem Sinne auch witzig.

zeit: Wie entstehen gute Ideen?

Brenner: Die Hauptsache ist, Dinge einfach auszusprechen, auch wenn sie falsch sein mögen. Indem ich sie ausspreche oder niederschreibe, kann ich besser erkennen, was daran falsch sein könnte. Und das kann zu einer robusteren Idee führen. Letztlich geht es darum, die Gedanken nicht zurückzuhalten. Ideen sind jedoch nur das eine. Ideen sind ziemlich billig in der Biologie. Viel wichtiger ist es, einen Weg zu finden, wie ich sie in der realen Welt testen und beweisen kann.

zeit: Aktuelle Großprojekte wie das Humangenomprojekt häufen aber eher Daten an als Ideen.

Brenner: Gerade im Moment gibt es eine starke Bewegung gegen eine von Hypothesen getriebene Forschung. Ich selbst bin da so etwas wie eine einsame Stimme aus dem prägenomischen Zeitalter. Zunächst klingt es ja ganz vernünftig, wenn man erst einmal alle Daten sammeln will - nach dem Motto: "Warum ein Gen nach dem anderen, wenn wir alle auf einmal haben können?" Okay, und dann macht man natürlich jede Menge Beobachtungen. Aber ich glaube, die Strategie ist der größte Mist, der jemals vorgeschlagen wurde. Die entscheidende Frage ist doch: Was will man herausfinden? Also sagt man dann als Nächstes: "Nun ja, die Daten werden schon von selbst irgendwas liefern, was man dann eine Theorie nennen kann."

zeit: Aber neue Theorien hat das Humangenomprojekt bisher kaum hervorgebracht. Die Forscher sammeln Daten und suchen nach Korrelationen, nach Hinweisen auf mögliche Zusammenhänge.

Brenner: Genau. Man sammelt Daten und sucht Korrelationen. Das ist das richtige Wort. Nach Kausalitäten sucht kaum noch jemand. Dabei ist das, was man gemeinhin eine kausale Beziehung nennt, immer noch sehr wichtig. Denn ohne Ursachen zu verstehen, kann man keine Voraussagen machen. Mir wurde sogar vorgeworfen, einen schlechten Einfluss auf junge Menschen auszuüben, weil ich über Hypothesen rede. Ich entgegnete: "Nein, meine Forschung wird nicht von Hypothesen getrieben, sie wird von Experimenten getrieben. Ich möchte testbare Hypothesen finden, das ist etwas anderes als pure Hypothesen." Hypothesen kann man Tausende entwickeln - am Grünen Tisch. Aber wie kann ich sie im Labor testen? Das ist die entscheidende Frage.

zeit: Sie haben schon recht früh den Trend kritisiert, immer mehr Maschinen und Computer aufzustellen, "die riesige Mengen nichtssagender Daten ausspucken". Ist das Wettrennen um Daten eine gefährliche Entwicklung in der Forschung?

Brenner: Nein, nicht wirklich gefährlich. Ich denke, wir werden sehr schnell merken, dass die Datenflut schlicht irrelevant ist. Daher lohnt es auch nicht, dagegen anzukämpfen. Wir sind längst an dem Punkt angelangt, an dem die Leute angesichts der Datenflut entdecken, dass das meiste davon nichtssagendes Rauschen ist.

zeit: Und nun?

Brenner: Was man jetzt hat, ist ein kontaminiertes, ein verseuchtes System. Es ist, als würde man eine Zeitung produzieren mit einer riesigen Menge Extrabuchstaben. Der Text ist irgendwo darin enthalten, klar - aber verborgen in all dem Müll. Und so hört man jetzt die Leute schreien: "Wie können wir die Daten in Wissen umsetzen?" Zur gleichen Zeit rufen andere nach einer neuen Biologie. Sie wollen Integrative Biologie betreiben, Systembiologie. Aber kaum einer nennt es beim richtigen Namen: Theoretische Biologie. Weil das Wort Theorie einen schlechten Klang hat. Wir brauchen aber eine Theorie, die alle Erkenntnisse einschließt. Stellen Sie sich nur einmal vor, wir müssen am Ende all dieses Zeug nicht nur unter Experten diskutieren, sondern müssen es an Universitäten lehren, in der Schule und es der Öffentlichkeit erklären. Wie sollen wir das ohne umfassende Theorie machen?

zeit: Sie selbst haben mit dem Genom des Pufferfisches Fugu ja auch kürzlich jede Menge Daten geliefert.

Brenner: Ja, die Sequenz ist gerade fertig. Der Unterschied aber ist: Fugu hat ein kompaktes Wirbeltiergenom, fast ohne nichtssagenden Schrott. Jeder, der es jetzt sieht, fragt: Warum haben wir das nicht schon vor acht Jahren gemacht? Es hätte uns die Interpretation des Humangenoms sehr erleichtert. Aber das Politbüro des Genomprogramms hat, wie man weiß, anders entschieden.

zeit: Als Sie vom Abschluss der Genomanalyse hörten - von der unerwartet niedrigen Zahl der Gene, von all dem viralen und bakteriellen Sequenzschrott - was war Ihr erster Gedanke?

Brenner: Geht zurück, und macht es richtig! Ich weiß zwar nicht, welche Daten die Firma Celera in ihren Computern hat, aber ich habe gesehen, was in den öffentlichen Datenbanken steckt: Es ist fürchterlich lückenhaft. Das Hauptübel ist, dass sie in dem großen Genom mit seiner Riesenladung Schrott eine Menge Gene nicht finden können. Die aktuell diskutierten Zahlen sind lächerlich niedrig, es gibt mit Sicherheit noch mindestens 10 000 Gene mehr. Beim Fugu diskutieren wir jetzt, nach den neuesten Daten, über 40 000 bis 50 000 Gene.

zeit: Kommt es nicht auch darauf an, was man exakt als Gen bezeichnet?

Brenner: Wenn man sich die Daten genau anschaut, sollte man nicht von Genen sprechen, sondern von Genorten, Genloci. Ein solcher Genort stellt viele verschiedene funktionelle Produkte her. Von daher habe ich kein Problem damit, dass viele Leute sagen, sie hätten mehr als 100 000 Gene. Ich sehe das nicht als unvereinbar mit den deutlich niedrigeren Zahlen des Humangenomprojekts.

zeit: 100 000 menschliche Gene, das würde unsere Spezies rehabilitieren. Bei der Publikation der ersten Zahlen hieß es noch, wir hätten kaum mehr Erbanlagen vorzuweisen als eine Fliege.

Brenner: Wir kennen doch viele Beispiele, wo ein Gen fünf verschiedene Produkte macht - und keines ist trivial, alle haben wichtige Funktionen. Eine kleine Veränderung beim Entstehungsprozess eines Proteins, und schon kann es in den Kern wandern. Oder man fügt an ein Ende ein kleines Stück an, damit das Protein an die Zellmembran gebunden bleibt. Beim Immunsystem ist dieses Umschalten zwischen membrangebundenen und ausgeschütteten Immunglobulinen sehr wichtig. Und es geschieht ganz einfach, indem man ein kleines Stück vom Proteinschwanz abschneidet. Auf diese Weise hat dieser Locus zwei Produkte, die funktionell relevant sind, mindestens.

zeit: Wäre ein Katalog aller Genprodukte der entscheidende Durchbruch?

Brenner: Das Hauptproblem des Humangenomprojekts ist, dass man bisher fast nichts über die Abschnitte neben den eigentlichen Genen weiß, über die Kontrollregionen. Sie entscheiden darüber, ob ein Gen aktiv ist und welches Produkt am Ende entsteht. Darüber wissen wir fast nichts. Es ist noch viel Arbeit, all dies aufzuklären. Und natürlich fragen die Leute: Kann man die Arbeit nicht den Maschinen überlassen?

zeit: Gibt es angesichts der gewaltigen Aufgabe eine andere Lösung?

Brenner: Nicht die Masse macht es, sondern der gezielte Ansatz. Diese Massentechniken eignen sich doch nur für Nukleinsäuren wie die DNA, befürchte ich. Man erhält die essenzielle Information aus der linearen Abfolge der DNA-Bausteine. Mit dreidimensionalen Proteinen kann man das nicht tun. Deswegen denke ich, Proteomik ist Quatsch. Und auch all die anderen "-omiken" werden nicht funktionieren.

zeit: Ihre Arbeit scheint vor allem von einer Frage getrieben: Wie entsteht ein funktionierender Organismus aus seinen Genen?

Brenner: Genau das ist Genetik.

zeit: In Ihrem früheren Labor im multidisziplinären Molecular Sciences Institute in Kalifornien setzten Sie dazu unter anderem auch auf Computer. Betreiben Sie jetzt doch die von Ihnen kritisierte Computational Biology?

Brenner: Nein, nein, so kann man das nicht sehen. Ich habe eine lange Vergangenheit mit Computern. Schon in den Sechzigern versuchten wir, Caenorhabditis dreidimensional im Computer zu rekonstruieren. Aber es war eindeutig zu früh dafür, die Rechner waren noch nicht so weit. Heute könnte es funktionieren. Ich war aber immer an einer Theory of Computation interessiert.

zeit: Was meinen Sie damit?

Brenner: Es ist eine Art, die Welt so zu betrachten, als sei sie voller Rechenvorgänge. Die entsprechende Frage für die Wissenschaft lautet: Wie bekommen wir darauf einen Zugriff? Die so genannte Systembiologie oder Integrative Biologie sagt, das Verhalten von Organismen sei emergent. Emergent meint, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Ich glaube das nicht. Das Ganze ist die Summe seiner Teile und seiner Interaktionen. Und was bewirken die Interaktionen? Sie berechnen das Ergebnis. Wenn wir diesen Blickwinkel einnehmen, dass Biologie ein einziges System von Berechnungen ist, dann können wir zu fragen beginnen, welche Eigenschaften es hat.

zeit: Computational Biology, Bioinformatik - all das ist gerade ziemlich in. Wird man mehr und mehr biologische Fragen künftig in silico, also mittels der Siliziumchips im Rechner lösen?

Brenner: Nun, in silico sollte man vielleicht besser "in sillyco" buchstabieren (silly, englisch für verrückt, Anm. d. Red.). Letztlich berechnet man im Computer nie die Wirklichkeit. Den Unterschied habe ich vor einigen Jahren begriffen. Ich hatte einen Studenten, der simulieren wollte, wie Caenorhabditis kriecht. Er schrieb ein Programm - und tatsächlich, am Ende konnte man lauter kleine Würmer über den Bildschirm kriechen sehen. Ich bat den Studenten, mir das Programm zu zeigen, und natürlich war es voller trigonometrischer Kalkulationen. Nur, es war keine Simulation, es war eine Imitation. Das Programm imitierte das Verhalten auf dem Bildschirm mittels mathematischer Gleichungen. Wenn man simulieren will, muss man aber Verhalten generieren. In dem Programm muss jeweils etwas sein für Muskeln, für Neuronen und alles andere, was bei dem Verhalten eine Rolle spielt. Wenn wir Zellen oder gar Organismen simulieren wollen, müssen wir nicht nur das Vokabular der Maschinensprache verstehen, sondern wir müssen auch das verstehen, was man die Grammatik eines biologischen Systems nennen könnte. Wir müssen uns vollkommen klar darüber sein, auf welche Art die Zelle oder der Organismus Informationen verarbeitet.

zeit: Werden neue Genomdaten möglicherweise auch zu Neuinterpretationen der Evolution führen?

Brenner: Vielleicht nicht zu Neuinterpretationen, aber auf jeden Fall dort zu größeren Erkenntnissen, wo wir noch nicht verstehen, wie all diese Organismen sich entwickelt haben. Das betrifft beispielsweise folgende Fragen: Wie viele Änderungen muss man vornehmen, um den Wandel vom Fisch zur Maus zu bewerkstelligen? Und wie viele, um den Schimpansen zum Menschen zu machen? Ich glaube, das können wir wirklich in den Griff bekommen.

zeit: Wie sind die geringen Unterschiede zwischen Affe und Mensch, in einigen Genabschnitte sogar auch zwischen Fisch und Mensch zu erklären?

Brenner: Ich glaube, dass zumindest in Wirbeltieren die Evolution durch Änderungen in der Regulation der Gene vorangetrieben wird. Grundsätzlich haben doch Mensch und Fisch das gleiche Repertoire. Die fundamentalen Eigenschaften der ganzen Subsysteme in Fisch, Maus oder Mensch sind dieselben. Das Immunsystem besteht aus denselben Zellen, also kann man erwarten, dass auch das Programm dasselbe ist. Das ist, was ich Inverse Genetik nenne. Wir suchen nach Konstanz in einem Meer aus Rauschen - im Gegensatz zur Standardgenetik, die nach Unterschieden in einer Wüste der Uniformität sucht.

zeit: War die Suche erfolgreich?

Brenner: In unseren Experimenten haben wir schon einige kleine Flecken gefunden, in denen Sequenzen komplett konserviert sind. Wir denken, das ist der Beginn eines Lexikons, eines evolutionären Codes. Mit ihm würden wir sogar in der Lage sein, neue Tiere zu berechnen. Die experimentelle Evolution wird das interessanteste Thema der Zukunft sein.

zeit: In einer Ihrer Kolumnen für die Zeitschrift Current Biology stellen Sie sich vor, wie Francis Crick in den Himmel kommt. Crick trifft Gott und fragt, wie denn die Genetik bei Drosophila funktioniert. Gott antwortet: "Nun, wir nehmen ein bisschen hiervon, fügen ein paar Dinge hinzu und ... Eigentlich wissen wir es gar nicht. Aber ich kann dir sagen, wir machen hier Fliegen seit 200 Millionen Jahren, und es gab nie Beschwerden."

Brenner: Es gibt in der Biologie nun einmal keinen allgemein gültigen Weg, wie man etwas verstehen kann. Biologie ist das Gebiet, in dem das Beispiel alles ist. Es ist nicht Beispiel für irgendetwas anderes. Es ist, was es ist. Und zwar, weil es auf die Details ankommt.


Die Fragen stellte Ralf Neumann, Chefredakteur der Fachzeitschrift "Laborjournal". Er traf Sydney Brenner am Rande eines Symposiums in Basel

 

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